Donnerstag, 1. März 2007

Erich Kästner


Als ich ein kleiner Junge war, trabte ich, morgens vor der Schule, zum Konsumverein in die Grenadierstraße. "Anderthalb Liter Petroleum und ein frisches Vierpfundbrot, zweite Sorte", sagte ich zur Verkäuferin. Dann rannte ich - mit dem Wechselgeld, den Rabattmarken, dem Brot und der schwappenden Kanne - weiter.

...

"Seitdem sind mehr als fünfzig Jahre vergangen", erklärt nüchtern der Kalender, dieser hornalte, kahle Buchhalter im Büro der Geschichte, der die Zeitrechnung kontrolliert und, mit Tinte und Lineal, die Schaltjahre blau und jeden Jahrhundertbeginn rot unterstreicht. "Nein!" ruft die Erinnerung und schüttelt die Locken. "Es war gestern!" und lächelnd fügt sie, leise, hinzu: "Oder allerhöchstens vorgestern." Wer hat unrecht?

Beide haben recht. Es gibt zweierlei Zeit. Die eine kann man mit der Elle messen, mit der Bussole und dem Sextanten. Wie man Straßen und Grundstücke ausmißt. Unsere Erinnerung aber, die andere Zeitrechnung, hat mit Meter und Monat, mit Jahrzehnt und Hektar nichts zu schaffen. Alt ist, was man vergessen hat. Und das Unvergeßliche war gestern.

Der Maßstab ist nicht die Uhr, sondern der Wert. Und das Wertvollste, ob lustig oder traurig, ist die Kindheit. Vergeßt das Unvergeßliche nicht! Diesen Rat kann man, glaub ich, nicht früh genug geben.

(Aus: Erich Kästner, Als ich ein kleiner Junge war, München 2006, dtv-Verlag)

Hier können Sie die ganze Episode lesen

---------------------------------

Verfassen Sie Ihre eigenen Memoiren oder eine Biographie! Schreiben Sie Ihr eigenes Buch! Mehr Informationen: www.ihr-eigenes-buch.de

Keine Kommentare: