Donnerstag, 13. September 2007

Die Menschen würden aufhören zu sterben


Im Frühjahr 1929 passierte in unserer Familie allerlei, was ich wahrnahm, ohne es verstehen zu können. Ich sah die Tränen meiner Mutter und die Hilflosigkeit meines Vaters, ich hörte sie jammern und klagen ...

Die Katastrophe ließ denn auch nicht lange auf sich warten. Sie hatte zwei Gründe: die große Wirtschaftskrise und meines Vaters Mentalität. Er war solide und anspruchslos, gütig und liebenswert. Nur hatte er leider den falschen Beruf gewählt, denn von kaufmännischen Fähigkeiten konnte bei ihm nicht die Rede sein. Er war ein Geschäftsmnann und Unternehmer, dessen Geschäfte und Unternehmungen in der Regel wenig oder nichts einbrachten. Natürlich hätte er dies früher oder später einsehen sollen, er hätte sich nach einer anderen Tätigkeit umschauen müssen. Aber hierzu fehlte ihm jegliche Initiative. Fleiß und Energie gehörten nicht zu seinen Tugenden. Charakterschwäche und Passivität bestimmten auf unglückselige Weise seinen Lebensweg.

Hätte ihr Mann, pflegte meine Mutter zu sagen, Särge hergestellt, denn würden die Menschen aufhören zu sterben. Sie hat damals sehr gelitten. Sie schämte sich, auf die Straße zu gehen, denn sie rechnete mit höhnischen oder verächtlichen Blicken der Nachbarn und Bekannten.

Aus: Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben, München 2006, dtv-Verlag

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